Sonntag, 02.06.2002 - Zu Besuch bei Meister Adebar und Erinnerung an Fado


Kurs

N/A

Position

N  37° 00.5'

Geschwindigkeit

N/A

W   7° 56.5'

Etmal

N/A

Faro, Portugal

Distanz

Gesamt

5195sm

Wetter

25°
1010hPa
2->6 Bft SW
sonnig

unter Segeln

4205sm

unter Motor

  990sm 


Heute war mal wieder Abreisetag, denn Tom, Natalie und Luke mußten uns (schon) wieder verlassen - wie schnell doch eine Woche vergeht!  Jetzt sind wir nur noch sechs Musketiere, die die Julia die letzte Woche heim nach Vilamoura schippern....

Jedenfalls wollte der Rest der Crew den Tag für die Besichtung von Faro nutzen, schließlich konnten wir den Tag aufgrund der unterschiedlichen Abfahrts- bzw. Flugzeiten für keinen Segelschlag mehr nutzen. Also auf in die Altstadt - und nach einer Stunde waren wir fertig. Hmm. Die Altstadt war bei genauerer Inspektion nur so groß wie ein Fußballfeld, die Kirchen und Museen waren alle geschlossen. OK, dann eben Shopping, schließlich sind wir ja in DER Tourismusgegend Portugals, da wird man wohl konsumorientiert sein. Aber wieder Fehlanzeige -  verkauft wurde heute nix von niemandem, schließlich war es ja Sonntag. Wir hatten schon Schwierigkeiten genug, EINEN geöffneten Kiosk zu finden - daß der uns auch noch eine tagesaktuelle FAZ verkaufen konnte, war eigentlich schon der Höhepunkt des Tages. Verschlimmernd kam hinzu, daß die Stadt total tot war - die Einheimischen schauten wohl alle im Wohnzimmer Fußball und die Touris waren alle am Strand, auch vor dem Fernseher oder auf dem Weg zum, vom oder im Flieger. Es bot sich eigentlich nur noch der Rückzug zum Boot an, aber ausgerechnet heute ist das Bier alle... Grrrr.

Aber wollen wir Faro nicht zu sehr Unrecht tun, denn immerhin haben wir heute mehr Störche und Storchennester gesehen, als unsere Freunde in der letzten Zeit Kinder bekommen haben. BTW, John, hat sich Meister Adebar eigentlich arg mit den Tauben vor eurem Schlafzimmerfenster prügeln müssen?

Da der Tag außer zunehmendem Wind und einem hervorragenden Abendessen nichts mehr zu bieten hatte, sei hier unserer Abschiedsstimmung entsprechend noch ein in den letzten Tagen entstandenes Werk unseres Bordliteraten Markus veröffentlicht. Herr Schirrmacher hatte diesmal nichts gegen den Vorabdruck.....

Abends, wenn Traurigkeit nachhallt, gib ihr meine Stimme
Fado in Lissabon

Die anderen hatten sich gerade verabschiedet, um zum Schiff zurückzukehren. Uns war noch nicht nach Schlaf, daher beschlossen wir, in den Gassen von Lissabon nach einer netten Gelegenheit für unseren allabendlichen Schlaftrunk zu suchen. Die Stadt war noch hellwach, Menschengruppen standen vor kleinen Bars, hatten das übliche Getränk, Cerveca, in ihren Gläsern und wollten nicht nach Hause gehen. Die Mauern, die links und rechts in den mondlosen Abend ragten, waren durchbrochen vom Widerschein aus kleinen Fenstern, hin und wieder flackerte das fahle Licht eines Fernsehers und erhellte die gegenüberliegende Seite mit blau-bunten Reflexen.

Uns beflügelte die Energie, die wir in einer Tequila-Bar aufgesogen hatten, gesteigert durch die deftige Küche eines kleinen Restaurants und ausreichend Alkohol, wie er im Vinho Verde zu finden ist. Untergehakt schritten wir mit festen Schritten aus, das Geklapper hochhackiger Schuhe begleitete uns, hallte uns voraus wie ein Herold, der unsere frohe Laune allen mitzuteilen hatte, die unseren Weg kreuzten. Bettler, die unseren Weg säumten, beachteten wir keines Blickes, unsere Grausamkeit war für uns nicht wahrnehmbar.

Die erste Bar, die wir betraten, war allem Anschein nach von jungen Leuten besucht, die wir früher „Ökos“ nannten. Weite Hosen, Nickelbrille, ungeordnete Haare, all das schien einheitliche Uniform der Anwesenden. An einem Tisch war ein Kuchen aufgeschnitten, Brösel über den ganzen Tisch verstreut. An einem anderen Tisch wurde lautstark diskutiert, anscheinend ein politisches Thema, weil immer wieder Namen von portugiesischen Politikern fielen. Wir hielten uns dort nicht lange auf, bestellten nur ein Bier und bewunderten die Spieler am Tischfußball zu unserer Linken.

Anschließend zogen wir weiter, vorbei an lauter Musik, die aus geöffneten Türen und Fenstern der Bars auf die Straßen drang. In einer engen Gasse dann kamen wir an einem Haus vorbei, das irgendwie ungewöhnlich wirkte. Weißgetünchte Wände hoben sich vom Nachthimmel ab und wirkten frisch und neu gegen die graubraunen Nachbarhäuser. Ein Mann stand in der leichtgeöffneten Tür. Er winkte uns zu sich, als wir aus Neugier durch eines der Fenster schauten.

Wir folgten seinem Winken ebenso wie seinem Aufruf zum Schweigen, zu Ausdruck gebracht mit einem an die Lippen gelegten Finger und einem kurzen Zischlaut. Dunkelheit umfing uns, als wir in den rauchgeschwängerten Raum hinter der Tür traten. Der Klang zweier Gitarren vermischte sich mit dem Gesang einer männlichen Stimme. Portugiesische Wortfetzen drangen an unsere Ohren. Als Jonna in den Raum trat, fingen die Gaste lauthals zu lachen an. Wie wir später merkten, hatte das nichts mit ihr persönlich zu tun; der Fado-Sänger, ein Mann mittleren Alters mit grauen Locken und der Brille im Haar wie Fürstin Gracia Patricia, hatte den Text seines Liedes spontan so abgeändert, daß Jonna im Mittelpunkt seiner Agierens stand. Als ich hinter Jonna trat, wandte er sich mir zu, sang, ohne inne zu halten, etwas mit Bezug auf mich. Erneutes schallendes Lachen des Publikums war die Folge. Uns blieb nichts übrig, als unwissend zu lächeln und zu hoffen, daß der Spot, dem wir ausgesetzt waren, nicht zu ehrenrührig war. Am Ende des Liedes, einige Lacher waren noch auf unsere Kosten gemacht, verbeugte sich der Sänger vor Jonna, gab ihr einen vornehmen Handkuß, um mir anschließend die Hand zu reichen.

Auf diese Weise bestätigt, daß wir nicht ganz der Lächerlichkeit preisgegeben waren, gingen wir bis zur Bar in den hinteren Bereich durch und bestellten uns ein paar Bier. Von dieser Position aus konnten wir den kleinen Raum überblicken. Die Wände waren mit unzähligen Porträts und Fotografien von Männern und Frauen mit sehr ernstem Blick behangen. An der Stirnseite des Raums hingen gar einige zersplitterte oder gebrochene „guitarras“ wie Jagdtrophäen von der Decke.

Als das Geklatsche abebbte und langsam wieder Ruhe einkehrte, stand ein älterer Mann auf und stellte sich in die Mitte. Zustimmendes Gemurmel breitete sich aus, er schien bekannt zu sein. Mit seinem dunklen Anzug und seiner feierlichen Miene wirkte er wie ein Priester bei einer Beerdigung. Mit dem uns bereits bekannten „psssst“ forderte das Mädchen hinter der Bar das Publikum zum Schweigen auf. Kaum war völlige Stille eingekehrt, vernahmen wir den Klang von Gitarren. Konzentriert spielten zwei, ebenfalls feierlich angezogene Männer, ihre Seiteninstrumente, eine Gitarre und die etwas bauchigere, einer Mandoline ähnliche Guitarra mit ihren 12 Saiten. Insbesondere auf ihr konnten wir die Melodie des Liedes hören, das der „Fadista“ anstimmte. Sehr getragen, mit ruhiger Stimme und ganz in den Text seines Liedes versunken, sang er wohl von untergegangenen Schiffen, verlorener Liebe und dem Salz der Tränen, die das Meer benetzten. Diese Bilder formten sich in meinen Gedanken, je mehr ich mich der Melodie und den weichen portugiesischen Worten hingab:

Die Tränen stammten aus den grünen Augen von Juliana Severais und galten dem Andenken ihres Geliebten, Frederico De Freitas, einem trotz seines feinen Namens in Armut lebenden Fischers. Juliana lebte bei ihrem Großvater, da ihre Mutter bei ihrer Geburt und ihr Vater vor einigen Jahren auf See umgekommen waren. Frederico war ebenfalls Waise. Er fischte mit dem Bruder seines Vater, um sich so seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Von großer Gestalt, war sein wichtigstes Merkmal sein blond-weißes Haar und seine tiefblauen Augen. Er war, wie jedes Jahr zu Frühlingsbeginn, aufs Meer hinausgefahren, um Bacalhau zu fischen. Im vergangenen Winter hatten sich Juliane und Frederico gefunden und vor seiner Abreise ewige Liebe geschworen. Um ihre Angst zu beruhigen, hatte er ihr bei seiner Abreise gesagt, daß ihm niemals auf hoher See etwas passieren kann, da sein weißes Haar von Seejungfrauen verzaubert sei. Im Verlauf des Sommers aber bekam Juliana neben den ersten Anzeichen einer Schwangerschaft auch ein schwermütiges Gefühl. Dieses Gefühl verdichtete sich mit jedem Abend, wenn die Sonne unterging, mehr und mehr, bis sie im Herbst kurz vor Rückkehr der Fischer ganz sicher wußte, daß ihr Frederico nicht mehr lebte. Als die Fischerboote dann im Oktober, als die ersten Bäume sich gelb färbten, am Horizont auftauchten und wenig später in den Hafen des kleinen Fischerdörfchens einliefen, in dem Juliane lebte, wurde ihre Furcht zur Gewißheit. Frederico war über Bord gegangen, als eines Nachts die Netze nur so überquollen vor Kabeljau. Eines dieser Netze riß und er wurde von herausberstenden Fischen über Bord gerissen und von da an nimmer mehr gesehen. Im Winter dann brachte Juliana eine Tochter zur Welt, deren Haar ganz weiß war vom Kummer ihrer Mutter. Seitdem sitzt Juliana jeden Abend am Strand, sieht auf das Meer hinaus und sucht das Haar ihres Geliebten in der weißen Gischt. Dann fließen ihre Tränen und vereinen sich mit den Tränen des Meeres zum Klagegesang der jungen Witwe.

Es war faszinierend anzusehen, wie die Zuhörer hingebungsvoll lauschten, hin und wieder leicht mit dem Kopf nickten, als wollten sie ausdrücken, daß dieser Satz oder jene Wendung ganz besonders hervorragend dargebracht worden waren.

Unter viel Applaus ging der Fadista, nachdem er noch zwei weitere Lieder vorgetragen hatte, an seinen Platz zurück.

Kleine Anmerkung des Autors für seine Leser: Der Abend in der Fado-Kneipe war so ungewöhnlich, un-touristisch und gefangennehmend, daß er (der Autor) genau diese Eindrücke vermitteln wollte. Jetzt aber, am Navigationstisch der Segeljacht sitzend, die ihn nach Lissabon und andere portugiesische Hafenstädtchen gebracht hatte und am Laptop schreibend, merkt er die Unmöglichkeit seines Tuns. Durch die Lage in der Einflugschneise des Flughafens von Faro (heißt: alle fünf Minuten die Unterseite eines Jets wie die verletzliche Bauchseite eines Fisches kurz vor der Entnahme der Innereien in hundert Meter Höhe sehen zu müssen und LÄRM, LÄRM, LÄRM ertragen zu müssen) steht er vor der Wahl: später weiter zu dichten oder zu akzeptieren, daß er heute nicht mehr in den Fado-Modus kommt, was zwangsläufig in weniger romantische Schreiberei über Musik, Wehmut und Abschied enden muß).

An seine Stelle trat eine Frau mittleren Alters in einem weißen Kleid mit dunklem Blumen­muster. Waren die bisherigen Fados traurig, wehmütig und melancholisch, so erwartete uns jetzt eine Folge von Liedern, die selbst taubstumme Grottenolme zum Weinen bringen konnte (und die wissen sehr wohl, was Wehmut ist). Wir vernahmen die Mutter aller traurigen Arien, das tiefste Tal der Tränen, das einem Ohr gewahr werden kann. Hervor­zu­heben ist die minimalistische Gestik (von Mimik wollen wir gar nicht anfangen) unserer Sängerin. Mit leichten Positionsveränderungen ihrer Handknöchel konnte sie mehr aussagen als Roland Kaiser mit all seiner Gestik und Fummelei. Drei Lieder lang glitten wir auf dieser Traurigkeit dahin (ich will nicht respektlos sein, es war zwar tief trübsinnig, aber auch wunderschön).

In der nachfolgenden Pause erläuterte uns einer der Gäste in hervorragendem Englisch, welcher der Anwesenden Sänger, Profi-Sänger oder einfach nur Gast war. Auf die Frage, ob er nicht auch singen möge, schüttelte er nur lachend den Kopf und meinte, er könne so etwas nicht.

Am Tisch der eben abgetretenen Sängerin saß auch ein junger Bursche, vielleicht siebzehn oder achtzehn Jahre alt. Er war mir vorhin schon aufgefallen, weil er die Sängerin immer wieder mit Stolz betrachtete. Ich nahm an, daß sie seine Mutter und er begeistert von ihrer Darbringung war. Sohn oder Geliebter; als sie saß und klar war, daß jemand Neuer in die Mitte mußte, wer sprang da auf? Eben jener Jüngling. Handkuß zur Mutter, schnurstracks zu den Guitarristas, ein paar Worte gewechselt, wohl bezüglich der zu spielenden Akkorde oder der Tempi, und da stand er inmitten der Gäste und wartete auf das Einsetzen der Musik. Mit ähnlich minimalistischer Geste (die Gene lassen grüßen) erzählte er dann mit einer Stimme, die tief und klar war, von zerborstenen Herzen, ermordeten Liebhabern, vereinsamten Geliebten und einer Welt, die ohne Liebe gefühllos, aber mit ihr grausam war.

So ging es dann viele Bierchen weiter, neue Gäste standen auf und sangen zwei oder drei Lieder, mal melancholisch, mal lustig, immer aber sehr ernsthaft und immer von den Zuhörern begeistert aufgenommen. Auch der Mann, der uns einige Hintergründe erläutert hatte und sich so kategorisch dem Singen verweigerte, mußte noch auf die Gesangsfläche. Der Höhepunkt aber kam, als wie die Bar drei Stunden später verließen. Wir wollten uns aus der kleinen Gasse herausbewegen, um an einer größeren Straße ein Taxi zu finden, als einer der Fadosänger, der sich gerade vor der Tür bei einer Zigarette von seiner Einlage erholte, hinterher rief: „Taxi?“. Er war in der tat Taxifahrer, sein Auto parkte direkt vor der Tür. Begeistert von der Einfachheit, einen Weg nach Hause zu finden und von der Vorstellung, auch im Taxi noch live Fado vorgetragen zu bekommen, stiegen wir ein.

Aber außer dem hiesigen Popsender bekamen wir musikalisch nichts geboten, ein Fadista singt nur in entsprechende Umgebung. Schön war’s trotzdem.

Lissabon, 2002
prolog@literaturlounge.de